Zar Alexander III. von Russland war ein großer Mann. Sowohl in seiner Körpergröße, als auch charakterlich. In vielerlei Hinsicht war er das Sinnbild eines guten russischen Zaren. Seine massive, bärtige Erscheinung strahlte Stärke und Macht aus, aber unter dem beeindruckenden Äußeren befand sich ein bodenständiger Mann, ein gutherziger Familienmensch und ein Liebhaber der Musik.
In der heutigen Geschichtsschreibung ist es modern, ihn als Monarchen zu porträtieren, unter dem es keinen „Fortschritt“ gegeben habe. Das ist sehr unwahr. Alexander III. war vielmehr exakt der Zar, den Russland zu jener Zeit benötigte. Er hatte die schrecklichen Folgen abrupter sozialer Veränderungen gesehen und stieg im richtigen Moment vorsichtig auf die Bremse, um die Stabilität in Russland zu erhalten und eine geordnete Entwicklung in die Moderne zu erlauben.
In mehrerer Hinsicht war er reaktionärer als sein Vater, aber er unternahm auch Initiativen, wie sie noch kein Romanow-Zar vor ihm unternommen hatte. Er war ein Mann mit Charakter und Prinzipien und besaß eine wahre Verbundenheit mit seinem Land und dessen Menschen.
Kindheit und frühe Jahre
Der spätere Zar aller Russen wurde als Alexander Alexandrowitsch Romanov am 26. Februar 1845 in St. Petersburg geboren. Seine Eltern waren Alexander II. und Maria von Hesse-Darmstadt. Er war nicht der älteste Sohn und anfänglich gab es wenig Aussicht für ihn, einmal den Thron zu besteigen. Ganz traditionell erhielt er daher eine militärische Ausbildung, in der Annahme, er würde später Karriere in der Armee machen.
Doch im Jahr 1865 verstarb überraschend sein älterer Bruder Nikolai. Der junge Alexander wurde zum russischen Kronprinzen. Im folgenden Jahr heiratete er Prinzessin Dagmar von Dänemark, die zur Orthodoxie konvertierte und sich fortan Maria Fjodorowna nannte. Eigentlich war sie seinem Bruder Nikolai versprochen. Noch auf dem Sterbebett trotzte er Alexander das Versprechen ab, dass er sie an seiner statt heiraten würde.
Maria Fjodorowna war eine kleine zierliche Frau, die in starkem Kontrast zu ihrem 1,92 m großen Ehemann stand. Beide hätten sich nicht unähnlicher sein können. Sie war hübsch und grazil, er war breit und hochragend, sie war höflich und charmant, er war reserviert und manchmal schroff und hasste den Snobismus und die Oberflächlichkeit der Salongespräche.
Und dennoch hatten die beiden die glücklichste Ehe. Hatte sein Vater die eine oder andere außereheliche Liebschaft, so war dies bei Alexander III. ganz anders. Vermutlich wäre er schon vor dem Gedanken zurückgeschreckt. Das royale Ehepaar war einander ergeben und diese enge Bindung sollte bis zum Ende ihrer Tage bestehen bleiben.
Noch bevor er den Thron bestieg, sammelte Alexander wertvolle Erfahrung in administrativen und militärischen Aufgaben. Er nahm an Sitzungen des Ministerrates teil und diente im Russisch-Osmanischen Krieg 1877-1878. So erhielt er tiefe Einblicke in die Funktionsweisen des russischen Staats and die Verpflichtungen eines Monarchen. Zu jener Zeit wurde auch sein ältester Sohn geboren, der spätere letzte Zar Nikolai II.
Bombenattentat auf den Zaren
Am 01. März 1881 kam es schließlich zu einem Bombenattentat auf seinen Vater, Zar Alexander II., durch Angehörige der linksradikalen Organisation „Volkswille“. Der beliebte Zar verstarb in Folge des Anschlags. Plötzlich war Alexander gefordert – und Russland würde seinen Zaren Alexander III erhalten.
Schon einen Monat nach dem Anschlag veröffentlichte er ein Manifest, das er mit Hilfe des bekannten Monarchisten Konstantin Pobedonostsew verfasst hatte. In diesem Manifest betonte er unter dem Eindruck des Anschlags auf seinen Vater, dass er alles dafür geben werde, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Russland sei eine Monarchie, errichtet auf den Grundsätzen der orthodoxen Kirche. Dies werde er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Keine Angriffe darauf würden unbeantwortet bleiben.
In der Folge erhöhte Alexander III. die Macht von lokalen Behörden, um entschieden gegen Umstürzler vorzugehen. Er ließ revolutionäre Schriften konfiszieren und stärkte die „Ochrana“ (Охрана), die Geheimpolizei des Zaren. All dies ist wahr. Aber jene, die dem Zaren diese Dinge vorwerfen, vergessen in der Regel sich die andere Seite der Medaille anzusehen. Alexander III. sah seinen Vater zahlreiche liberale Reformen umsetzen – und wurde dafür in Stücke gebombt.
Wäre sein Vater von konservativen oder reaktionären Elementen getötet worden, könnte man Alexander III. Angst unterstellen. Aber nein, er wurde von Revolutionären getötet, für die der Zar seine Änderungen nicht schnell genug durchgeführt hatte.
Dies war für Alexander III. die zentrale Lehre aus der Regierungszeit seines Vaters. Er begriff das fehlerhafte Paradigma liberaler Revolutionäre und ihrer radikalen Verbündeten. In ihrem Wahn ein Paradies auf Erden zu errichten (das sie nie erreichen können) werden sie in ihren zwecklosen Anstrengungen immer radikalere Änderungen fordern, um das Unmögliche doch noch möglich zu machen. Gibt man einer ihrer Forderungen nach, werden sie nach mehr verlangen. Und noch mehr. Und noch mehr. Denn ihr endgültiges Ziel kann niemals erreicht werden. Alexander III. verstand dies und entschied sich früh dafür, dieses Spiel nicht mitzuspielen. Mehr noch, er beschloss diesen Leuten entschieden entgegen zu treten.
Innenpolitische Weiterentwicklungen
Dies bedeutete nicht, dass der junge Zar allen Veränderungen gegenüber verschlossen gewesen wäre. Er brach z.B. mit der konservativen Fraktion, als er 1889 ein neues lokales Amt einführte, das eine faire Auslegung des geltenden Rechts gegenüber der Landbevölkerung zu prüfen hate. Was Alexander III. bedingungslos bekämpfte, war die Revolution und Subversion – wie es jeder gute russische Zar tat. Für ihn galt der alte Grundsatz Nikolai I. „Orthodoxie, Autokratie, Nationalität“ (russ. Правосла́вие, самодержа́вие, наро́дность).
Dafür wurde er insbesondere posthum viel kritisiert. Insbesondere lastet man ihm eine Diskriminierung von Katholiken und Juden vor. Dabei tolerierte Alexander III. sehr wohl religiöse Minderheiten. Aber er machte klar, dass es das Russische Imperium war und nicht-orthodoxe Religionen keine Bekehrungen durchzuführen haben. Diese Doktrin war seinerzeit in fast jedem anderen Land üblich. Ob katholisch, protestantisch, muslimisch, buddhistisch usw. Die Kritik daran kam erst später auf, nämlich als man im Westen aufhörte seine Religion Ernst zu nehmen und auf einmal Russland für das eigene alte Verhalten kritisierte.
Auch in säkularen Fragen warf man Alexander III. gern Dinge wie „Reformstau“ und „Rückständigkeit“ vor. Was wiederrum unwahr ist. Denn er war nie gegen Veränderungen. Er war nur gegen Veränderungen, welche die „Seele Russlands“ bedrohten. Als Teil einer Reihe von Reformen zur Verbesserung der Wirtschaft schaffte er beispielsweise die „Seelensteuer“ Peter des Großen im Jahr 1887 ab. Er verringerte auch die Steuerlast der Landbevölkerung und führte Gesetze zum Schutz vor Kinderarbeit ein. Kinder unter 12 Jahren zu beschäftigen war demnach verboten, Kinder unter 15 Jahren durften nur eine festgelegte Zahl von Stunden arbeiten.
In den sich entwickelnden Fabriken Russlands existierte zwar kein Streikrecht, aber der Zar führte das Amt des Inspektors ein, der Fabriken im Land auf Einhaltung der Arbeitsbedingungen zu prüfen hat. Wie immer wurden nicht alle Regeln sofort umgesetzt oder eingehalten und die Bürokratie kann nicht jedes Problem lösen. Aber es zeigte auch, dass der Zar sich Gedanken um sein Land und seine Probleme machte und diese lösen wollte.
Er schützte ferner die eigene Industrie durch Zölle vor billigen ausländischen Wettbewerbern, baute Eisenbahnlinien und aus der negativen Handelsbilanz seines Vaters wurde unter seiner Regierungszeit ein Handelsbilanzüberschuss. Russland modernisierte sich nicht so schnell, wie sich dies manche wünschten, aber es modernisierte sich ohne Zweifel.
Der „sanfte Riese“ im Privatleben
Im Privatleben war der strenge, bestimmte Alexander das, was man einen „sanften Riesen“ nennt. Während er bei öffentlichen Anlässen oft eher reserviert auftrat, war er im Kreis seiner Familie ein lustiger und zu Scherzen aufgelegter Familienmensch. Statt großer Bankette zog es vor, mit der Dienerschaft ihr einfaches, bodenständiges Essen in der Küche zu teilen und Gäste mit seiner großen körperlichen Stärke zu unterhalten. Beispielsweise indem er Schürhaken bizarr verformte oder seine Frau in einer Hand und seine Schwägerin in der anderen Hand bis auf Schulterhöhe anhob.
Alexander liebte die Natur. Für ihn gab es nichts Schöneres, als ein Stück Brot und Wurst in einen Sack zu werfen und in die wilde russische Natur loszuziehen. Am heitersten war Alexander mit kleinen Kindern. Oft ging er mit ihnen zum Eislaufen. Nicht ohne aber vorher das Eis auf seine Tragfähigkeit zu testen. Dabei ging er auf das gefrorene Wasser hinaus, winkte seinen kleinen Zusehern zu und begann so fest er konnte auf das Eis einzutreten. Normalerweise brach er dann durch das Wasser ein und der Zar und die Kinder würden in großes Gelächter ausbrechen – was das Ziel seiner Bemühungen war.
Von allen seinen sechs Kindern war ihm Erzherzog Michail sein Liebstes. Traurigerweise war von seinem Erben Nikolai (der spätere Zar Nikolai II.) immer etwas enttäuscht. Er befürchtete, dass Nikolai die Stärke und der Willen zum Regieren fehlte. Doch statt Nikolai deshalb noch stärker auf den Thron vorzubereiten, zog er es vor, ihn nicht mit Staatsangelegenheiten zu belasten. Dies führte dazu, dass der spätere Nikolai II. recht unerfahren war, als er den Zaren-Thron bestieg.
Neue Bündnispolitik von Alexander III.
In der Außenpolitik übernahm Alexander III. eine sehr aktive Rolle. Dazu war er auch gezwungen, denn zu Beginn seiner Regentschaft stand Russland aufgrund der Balkankrise diplomatisch isoliert dar. Im Juni 1881 unterzeichnete er den Dreikaiserbund, der das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und Russland für drei Jahre zu Neutralität verpflichtete, sollte ein Mitglied in Kriege verwickelt werden. Und es schrieb den Status Quo im Balkan fest. 1884 erneuerte der Zar den Bund, obwohl er das Deutsche Reich nicht ausstehen konnte. Doch 1887 verweigerte er eine erneute Zustimmung. Dies hatte mit stark gegensätzlichen Interessen zwischen Russland und Österreich-Ungarn im Balkan zu tun. Und der Zar wusste, dass Deutschland im Zweifelsfall zu Österreich-Ungarn halten würde.
Das Deutsche Reich wollte sich nicht zwischen beiden Verbündeten entscheiden müssen. Doch als der pro-österreichische Ferdinand aus dem Hause Coburg-Gotha für den Thron des wiedererstandenen Bulgarien erwählt wurde, war der Zar verärgert und verlangte, dass sich das Deutsche Reich für eine Seite entscheiden müsse: Österreich-Ungarn oder Russland.
Wenig überraschend entschied sich das Deutsche Reich für Österreich-Ungarn. Es wurden Bemühungen angestellt, einige Vereinbarungen zwischen Deutschland und Russland aufrecht zu erhalten, doch am Ende gab Kaiser Wilhelm II. auch dieses Vorhaben entnervt auf. Russland war auf der internationalen Bühne wieder alleine, ohne Bündnispartner.
Das Resultat waren Verhandlungen und schließlich die Unterzeichnung eines der schockierendsten Bündnisse aller Zeiten. 1894 wurde Russland formell ein Verbündeter der Französischen Dritten Republik. Einige hatten schon lange dafür plädiert, war Frankreich doch mit großen Investitionen in Russland beteiligt. Doch mit dem neuen Bündnis erklärte sich Russland bereit, Frankreich beizustehen, sollten sie vom Deutschen Reich angegriffen werden. Das Gleiche galt natürlich umgekehrt auch für Russland.
Heutige Historiker weisen viel zu wenig darauf hin, was für ein verblüffendes Bündnis dies war. Die autokratische, tiefreligiösee absolute Monarchie Russlands tat sich mit Frankreich, der liberalsten, antiklerikalsten und revolutionärsten Republik Europas zusammen. Und beide schworen sich im Kriegsfall die Treue.
Sieht man auf die damaligen Spannung Russlands mit Großbritannien, so war Frankreich tatsächlich die einzig verbliebene Bündnisoption. Dennoch war es eine schockierende Wende des Schicksals. Frankreich war damals eine derart fanatische republikanische Gesellschaft, dass sogar das liberale Königreich Italien es als eine Bedrohung und Quelle subversiven Verhaltens einstufte. In Russland war es bis dato verboten, die französische Nationalhymne „La Marseillaise“ zu singen, feierte das revolutionäre Liedgut doch die gewaltsame Rebellion.
Ob dieses Bündnis letztendlich zum Vorteil Russlands war, ist bis heute Gegenstand hitziger Debatten. Mit Ausbruch des 1. Weltkriegs würde das Bündnis seine Wirkung entfachen. Und während Russland davon profitierte, dass Deutschland an zwei Fronten kämpfen musste, so reichte es nicht das Russische Imperium zu schützen. Mehr noch, die Französische Republik war alles andere als betrübt, dass russische Imperium 1917 fallen zu sehen.
Doch all dies war noch viele Jahre in der Zukunft. Während der Herrschaft Zar Alexander III. gab es keinerlei Anzeichen von Verfall. Trotz einiger Rückschläge, die sich der Kontrolle des Zaren entzogen (z.B. eine schreckliche Missernte mit Hungersnot) war die Regentschaft des Zaren eine erfolgreiche. Auf dem Balkan war der Einfluss zwar nicht vergrößert worden, doch in Ost- und Zentralasien war Russland weiter auf dem Vormarsch. Dies war der Grund für die schlechten Beziehungen mit Großbritannien.
Mit der Ausbreitung der russischen Grenzen bis nach Afghanistan begannen sich die Briten ernsthafte Sorgen um ihr indisches Imperium zu machen. 1885 brachen Feindseligkeiten zwischen Russen und Afghanen aus und viele sorgten sich, dass nun auch Großbritannien in den Konflikt hineinstossen werde. Doch glücklicherweise wurde eine diplomatische Lösung gefunden. Alexander III. wollte zwar den russischen Einfluss vergrößern, doch er war kein Kriegstreiber und er wusste, dass sich Russland auf die Verbesserung der eigenen Wirtschaft und Lebensbedingungen konzentrieren musste, statt sich in ungewisse militärische Abenteuer zu verstricken.
Ein Vertrag mit China sicherte Russland einen Fuß in der Tür Turkestans und die Konstruktion der Trans-Sibirischen Eisenbahn begann. Letztere würde sich für die weitere Entwicklung des Imperium als ungeheuer wichtig erweisen.
Im Jahr 1888 kam es nahe der Stadt Borki zu einem ungeklärten Eisenbahnunglück. Der Zug der Zarenfamilie entgleiste und stürzte in Teilen einen Abhang hinunter. Bis Hilfe eintraf, stemmte der Zar alleine das einstürzende Dach des Speisewagens und rettete damit das Leben seiner Frau und Kinder. Es war der beeindruckendste Beweis seiner Stärke. Alle konnten gerettet werden. Doch danach war der Zar nicht mehr der gleiche, er litt anschließend zunehmend unter schrecklichen Rückenschmerzen und kränkelte öfter.
Ärzte stellten bei ihm Nierenprobleme (Nephritis) fest, doch zum Zeitpunkt der Diagnose war es für eine Heilung bereits zu spät. Er starb am 20. Oktober 1894 im Liwadija-Palast auf der Krim, umgeben von seiner hingebungsvollen Ehefrau und den Kindern, als der Patriarch, der er war.
Zar Alexander III. war kein perfekter Mann und behauptete dies auch nie zu sein. Sein größter Fehler war – aus heutiger Sicht – seinen ältesten Sohn Nikolai zu unterschätzen und ihn nicht mehr auf seine Aufgabe vorzubereiten. Seine Beziehung mit Michail war wesentlich stärker.
Auf der anderen Seite schaffte er es Russland nach dem schockierenden Zarenmord zu stabilisieren und etliche Dinge zu verbessern und weiter zu entwickeln. Er war ein sehr bodenständiger Mann, aber nicht naiv oder dplump. Und er war ein Förderer der Musik. Er spielte sogar selbst Musik und oft würde er bei Festlichkeiten gemeinsam eine Runde mit den engagierten Musikern spielen. Er war ein ergebener Ehemann und ein aufrechter Mann. Streng, wenn es nötig war, aber niemals gemein oder grausam. Alles in allem war Alexander III. ein großartiger Zar.